ALGERIEN | Louisa Hanoune, Kandidatin der Arbeiterpartei PT in den Präsidentschaftswahlen am 17. April 2014

Interview von Louisa Hanoune für die Tageszeitung »El Watan« (Auszüge)

Frage: Sie haben oft die verschiedenen Regierungen kritisiert, doch nie den Präsidenten Bouteflika. Einige sehen darin schon eine zweideutige Haltung zur Regierung. Was antworten Sie ihnen?

Louisa Hanoune: Das sind ideologische Positionen von politischen Aktivisten, die keine Argumente haben (…). Während der ersten Amtszeit von Abdelaziz Bouteflika gab es nur eine Partei, die sein Wirtschafts- und Sozialprogramm bekämpft hat, – und nicht nur kritisiert, weil es hier nicht um Kritik geht, sondern um Kampf –, und das war die PT. Wir haben dagegen gestimmt, Alarm geschlagen und mobilisiert.

So haben wir auch das Gesetz über die Öl- und Gasvorkommen von Chakib Khelil (Energieminister, d. Red.) 2005 bekämpft, sowie die von Abdelhamid Temmar (Reformenminister, d.Red.) in Gang gesetzte Privatisierung. Natürlich war das die Orientierung des Programms von Bouteflika. (…) Warum geben Sie nicht zu, Sie und „gewisse Leute“, dass es Abdelaziz Bouteflika ist, der seine Politik geändert hat, und nicht die PT?

Er hat seine Position zur Tamazight (Berbersprache, d.Red.) korrigiert, er hat nach anfänglicher Privatisierung seinen Wirtschaftskurs durch Wiederverstaatlichung des Bergbaus 2001 und der Öl- und Gasindustrie 2005 korrigiert; er hat das Scheitern der Privatisierungen und der Partnerschaft mit dem Ausland 2008 eingestanden und in den LFC (ergänzenden Haushaltsgesetzen, d.Red.) 2009 und 2010 sehr wichtige Korrekturen vorgenommen, die dem entsprechen, wofür wir kämpfen. Das ist der Grund, warum wir diese Maßnahmen unterstützt haben. (…) Wenn die PT 2004, 2009 und 2014 einen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt und schon 1999 nicht Bouteflikas Kandidatur unterstützt hat (…), ist das ein Beweis für ihre Unabhängigkeit. (…)

Frage: Rechnen Sie sich zur Opposition oder stehen Sie der Regierung nahe?

Louisa Hanoune: Was verstehen Sie unter einer Nähe zur Regierung? Das ist ein seltsames neues Konzept für die Einteilung der politischen Parteien! Zunächst, was ist die Opposition? Man hat bereits von Parteien gehört, die sagen: „Wir sind in der Regierung, aber wir sind auch in der Opposition.“ Es gibt jene, die völlig mit der Regierungspolitik einverstanden sind, aber weil ihnen kein Ministerposten angeboten wurde, erklären sie sich zu Oppositionellen. Aber das ist keine Opposition. Wenn wir regierungsnah wären, wie Sie sagen, hätten wir ganz einfach zugestimmt, in der Regierung zu sein.

Das hat man uns mehrfach angeboten. Doch wir haben es abgelehnt, weil wir nicht in einer Art Patchwork sein können, in einer Regierung, in der das eine vertreten wird, wie auch sein Gegenteil. In der es Minister gibt, die für die Souveränität sind, und andere für die Abhängigkeit vom Ausland. (…)

Frage: Befürchten Sie nicht, in die gleiche Richtung wie die Regierung zu gehen, die aus der Stabilität eine neue Religion macht?

Louisa Hanoune: Nein, wir sind vielmehr damit zufrieden, dass der Staat sich um die Stabilität und Souveränität des Landes kümmert. Denn trägt er nicht dafür die Verantwortung? Ist es nicht so, ja oder nein, dass es rings um uns brennt? Sind wir nicht entlang unserer 6.500 km Grenzen von Vulkanen umgeben, von Entwicklungen, die die Nation in Zerreißprozesse treiben?

Die algerische Presse hat sehr schwerwiegende Informationen darüber verbreitet, dass unser Land direkt im Visier ist, durch die Verstärkung der Basis der US-Marinesoldaten in Moron de la Frontera bei Sevilla und der Basis Sigonella auf Sizilien. Und laut den Berichten und Erklärungen hoher amerikanischer Verantwortlicher geschieht das in Vorbereitung auf eine Militärintervention in Nordafrika. (…) Wenn eine Bewegung von Jugendlichen ausbricht, die zu Recht eine Arbeit fordern, versuchen die US-NGOs sie zu infiltrieren, um sie von ihren Zielen abzulenken und die Bewegung in eine Art „arabischen Frühling“ umzuwandeln. Beweise dafür gibt es. (…)

Es hat eine Revolution in Tunesien gegeben, es gab eine revolutionäre Entwicklung in Ägypten, deren natürlicher Verlauf umgelenkt wurde. Doch weder in Libyen, noch in Syrien oder anderswo hat eine Revolution stattgefunden. (…)

Der US-Plan für den Großen Nahen Osten kündigte die Teilung aller Länder an, von Pakistan bis Mauretanien, und zwar auf der Grundlage von Ethnien, Gemeinschaften, Religionen. Man muss blind sein, um nicht zu erkennen, dass man in Ghardaia versucht hat, auf konfessionellen Grundlagen zwei Bevölkerungen, die seit Jahrhunderten zusammenleben, gegeneinander aufzuhetzen. So hat man auch in jüngster Zeit versucht, die Tuareg im äußersten Süden Algeriens zu manipulieren. (…)

Frage: Sind Sie bei der Wirtschaft für ein 100% staatliches Modell, oder denken Sie, dass ein spezifisches Modell für Algerien möglich ist, wie es einige Kandidaten entwickeln – also liberal, aber unter Berücksichtigung der sozialistischen Vergangenheit des Landes?

Louisa Hanoune: Die von Ihnen erwähnte liberale Option wurde in unserem Land leider schon mit mörderischen und dramatischen Folgen auf sozio-ökonomischer und politischer Ebene ausprobiert. Es war die Umsetzung des IWF-Strukturanpassungsprogramms, das zur Schließung von Hunderten öffentlichen Unternehmen und der Vernichtung hunderttausender Arbeitsplätze führte. (…)
Sozialismus bedeutet kollektives Eigentum an den großen Produktionsmitteln. Das ist unser strategisches Ziel. Bis dahin sind wir für eine echte Agrarreform, für die Existenz eines starken öffentlichen Sektors, für Großunternehmen, für eine Schwerindustrie (…), ergänzt durch einen nicht parasitären, produktiven privaten Sektor. Ich spreche nicht von der Öl- und Gasindustrie und dem Bergbau, die als strategische Sektoren unveräußerlich sein müssen.

In unserem Programm vertreten wir nicht nur den Erhalt, sondern die Stärkung des Artikels 17 der Verfassung, der das kollektive Eigentum der Nation definiert. Das schließt mit ein, dass diejenigen Beschlüsse und Gesetze, die dem Artikel 17 zuwiderlaufen, aufgehoben werden müssen und die billig verkauften Unternehmen wiederverstaatlicht werden müssen, zumindest mit 51% Anteil.
Wir sind für die Stärkung der nationalen Produktion: durch den Stopp des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union, das unsere Landwirtschaft und Industrie verwüstet hat und wo alle anerkennen, dass es für unser Land schädlich ist; durch den Austritt aus der großen arabischen Freihandelszone und den Nicht-Eintritt in die WTO (…).

Frage: Möchten Sie etwas sagen zu Ihrem Treffen mit Ahmed Gaid Salah (stellv. Verteidigungsminister, Generalstabschef der algerischen Armee, d.Red.) und dem Ministerpräsidenten?

Louisa Hanoune: (…) Ich bin überrascht, dass einige Kommentatoren es „unnormal“ finden, wenn ich mich an die Institutionen der Republik, an den stellv. Verteidigungsminister wende. Dass ich also in einem Ministerium von einem Regierungsmitglied empfangen werde. Doch nehmen wir mal an, dass es nur den Generalstabschef betrifft. Inwiefern wäre es ein Anschlag auf die Demokratie, wenn man in einer für die Region so gefährlichen Situation, angesichts der Gefahren der Destabilisierung der Armee, denjenigen trifft, der für die Sicherheit des Landes sorgen muss?

Ja, ich treffe mich mit den algerischen Verantwortlichen. Ich habe Arbeitssitzungen als Abgeordnete mit Ministern, immer wenn ich das für notwendig erachte. Ich treffe den Präsidenten der Republik, wenn ich kann, ich treffe den Ministerpräsidenten und telefoniere regelmäßig mit ihm. Ich habe mit ihm über die ernsten Vorgänge in Ghardaia und den Lehrerstreik gesprochen, über die Notwendigkeit, eine positive Lösung zu finden, weil ihre Forderungen berechtigt sind.

(…) In Erwartung, der Herausbildung des Sozialismus sind wir uns dessen bewusst, dass die Existenz eines Nationalstaates – welcher Natur auch immer – eine Voraussetzung für die Existenz einer Nation ist. Ohne Staat, ohne territoriale Einheit, ohne ein Volk, das durch eine Kultur und eine oder mehrere Sprachen zusammengeschweißt ist, kann es keine Nation geben. Deshalb verteidigen wir die Existenz des algerischen Staates und seine Souveränität, welche Natur er auch immer hat.

Doch wir kämpfen auch für die Änderung seiner Natur. Deshalb kandidiere ich für den Vorschlag, die II. Republik aufzubauen. Das bedeutet eine gründliche Verfassungsreform, an der sich das algerische Volk in einer demokratischen Debatte beteiligt.

In diesem Rahmen beinhaltet die wahre Demokratie unserer Ansicht nach ein wirkliches System der Umverteilung, ein wirkliches regionales Gleichgewicht, tatsächliche Gleichberechtigung der Frauen, gleicher Zugang aller Bürger zum öffentlichen Dienst und Gleichheit vor dem Gesetz.

Das beinhaltet die Aufhebung des Familienrechts, damit sich alle Fähigkeiten der Frauen entfalten können, und davon gibt es genug. Wir sind für eine einzige Parlamentskammer, eine wirkliche Nationalversammlung, die aus dem Willen des Volkes hervorgehen muss und aus wirklichen Mandatsträgern, die abrufbar sind, besteht.

Wenn ich zur Präsidentin gewählt würde, würde ich dem algerischen Volk erneut das Wort erteilen, damit es die Form und den Inhalt der Institutionen definiert, die es für die Ausübung seiner Souveränität braucht – sei es in einem Verfassungsprozess, wenn die politischen Bedingungen dafür vorhanden sind, oder sonst durch die Eröffnung einer allgemeinen Debatte über die Verfassungsreform.