„Großbritannien wird nie mehr so sein wie zuvor“ (The Observer, 13. September)
Das Referendum über „Schottlands Unabhängigkeit“ hat am 18. September stattgefunden. Die Wahlbeteiligung erreichte die historische Rekordmarke von 84%. 44,7% der schottischen Wähler stimmten mit Ja, 55,3% mit Nein.
Im Allgemeinen haben die Kommentatoren nicht das Urteil des »Observer« angezweifelt, das wir in der Überschrift zitiert haben. Tatsache ist, dass in einem Teil Großbritanniens, das seit drei Jahrhunderten mit seiner Geschichte verbunden ist und in dem der Appell an das „nationalistische“ Gefühl reine Nostalgie zu sein schien, fast die Hälfte der Wähler signalisiert hat, dass sie für sich im Rahmen des heutigen britischen Staates keine Zukunft sehen.
Warum? Eine britische Gewerkschafterin sagte dazu: „Es gibt keine nationale Frage in dem Sinne, wie in anderen Ländern, wo es unterdrückte Nationalitäten gibt. Was passiert, ist, dass die Leute sagen: ‘Probieren wir mal das Ja. Nach Thatcher, Blair, Brown und jetzt Cameron, die alle die gleiche Politik betreiben, kann es nicht schlimmer werden.‘ “ Eine andere Gewerkschafterin stellte fest: „Plötzlich sah man in Glasgow die Leute – darunter viele Jugendliche – Schlange stehen, um sich auf den Wählerlisten einzutragen. Sie haben nichts am Hut mit der schottischen nationalistischen Partei, die eine bürgerliche Partei ist. Sie sind Labour-Wähler und oft auch Nichtwähler geworden. Sie werden diesmal mit Ja stimmen, weil sie die Nase voll haben von Haushaltskürzungen, Privatisierungen, Arbeitslosigkeit und der Zerstörung des Gesundheitswesens.“
In Glasgow, der größten Arbeiterstadt Schottlands, die von Labour verwaltet wird, stimmte die Mehrheit mit Ja. Glasgow ist die Stadt, in der eins von fünf Kindern unterhalb der Armutsgrenze lebt, oder in den Arbeitervierteln Springburn und Calton sogar die Hälfte.
Ganz Großbritannien ist eine Industriewüste. Aber nach der Zerstörung des Bergbaus, der Werften und der Metallindustrie ist die Lage in Schottland katastrophal. Seit 1997 ging unter der Regierung von Tony Blair und dann von Gordon Brown, die selbst Abgeordnete von schottischen Wahlkreisen waren, diese zerstörerische Politik in dem Landesteil weiter, der noch eine Bastion der Labour Party war. Seit 2008 wurden für die Bankenrettung von Jahr zu Jahr immer härtere Haushaltskürzungen vorgenommen, die den öffentlichen Dienst und die Sozialleistungen verschlechtern.
Diese Politik führte zu den Wahlergebnissen von 2010, als im britischen Parlament die besiegte Labour Party einer Mehrheit von Konservativen und Liberaldemokraten weichen musste. Und sie führte dazu, dass bei den Wahlen für das 1999 gebildete schottische Regionalparlament (das sog. „Parlament Schottlands“) die SNP – die schottische nationalistische Partei – mit 45% der Stimmen und einer Mehrheit von 69 Sitzen einen überwältigenden Sieg auf Kosten von Labour errang.
Diese SNP-Ergebnisse von 1999 bis 2011 sagen sie viel über die Verantwortung der Labour-Führung für die entstandene Situation. Nach diesem Sieg hat der schottische Ministerpräsident Alex Salmond versprochen, ein Referendum über die Unabhängigkeit zu organisieren.
Die SNP hat nichts mit einer Arbeiterpartei zu schaffen. Seit 2011, als sie infolge der Labour-Politik die Mehrheit in der Regionalversammlung gewann, stellte sie ihr Handeln in diesen Rahmen, konnte allerdings die Steueranteile für das Nordseeöl nutzen, um die Kürzungen beim öffentlichen Dienst und dem Gesundheitswesen zu begrenzen und nicht die sehr hohen Einschreibegebühren für die Universitäten zu erheben, wie sie im Rest des Landes üblich sind. Das wirkt sich natürlich nicht unerheblich auf ihre Wählerbasis aus.
Wohin hätte ein Sieg des Ja geführt?
Nach einem kürzlichen Gespräch mit der Queen hat Alex Salmond angekündigt, dass Schottland weiter der Krone gehorchen werde, das Pfund als Währung behalte und die Außenpolitik weiter von London abhängig bleibe, was im Klartext die volle NATO-Mitgliedschaft und die totale Unterwerfung unter die US-Politik bedeutet. Und schließlich hat die SNP immer wieder daran erinnert, dass sie sich feierlich darauf verpflichtet, die verschiedenen im „Weißbuch“ geplanten Maßnahmen durchzuführen, unter anderem die Einführung eines „nationalen Paktes für Beschäftigung und industrielle Beziehungen“, im Sinne einer ständige Sozialpartnerschaft zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern, verbunden mit dem Appell an die Unternehmen, in Schottland zu investieren, die dafür mit Steuererleichterungen belohnt werden…
Kurz vor der Abstimmung sagte ein Gewerkschafter: „Wenn man sieht, dass der ehemalige Premierminister der Labour Party, Gordon Brown, der die Banken gerettet hat, eine Kampagne für das Nein macht, dann verstehe ich die Ja-Wähler.“
Doch andere kämpferische Arbeiter haben erklärt, dass sie mit Nein stimmen – nicht wegen der Ansagen von Brown und Cameron, sondern trotzdem –, weil „sie den Versprechen der Nationalisten nicht glauben konnten. Das Öl gehört weder England noch Schottland, sondern den multinationalen Konzernen, und die SNP wird sie nicht enteignen.“
„Großbritannien wird nie mehr so sein wie zuvor“, und die Messe zur Versöhnung, die am Sonntag, den 21. September, in der Kathedrale Sankt Gilles in Edinburgh von der schottischen Kirche organisiert wird, wird daran nichts ändern.
Premierminister Cameron hat nach dem Referendum reagiert und versichert, er werde die Versprechen an Schottland für den erweiterten Föderalismus halten, aber sie würden von ähnlichen Veränderungen in England und Wales begleitet. Damit treibt er die Auflösung Großbritanniens weiter voran mit dem Ziel, in allen Landesteilen die national gültigen Arbeitererrungenschaften und kollektiven Rechte zu zerstören. Doch mit diesem Vorgehen verschärft er die Krise nur umso mehr…
Korrespondent
Die Zahlen des Referendums
Wähler: 4,3 Millionen
Nein: 55,3%
Ja: 44,7%
Wahlbeteiligung: 84,6%, die höchste seit einem Jahrhundert.
In Edinburgh, der traditionell nationalistischen Verwaltungshauptstadt und Sitz der Regionalversammlung, genannt „Parlament“, siegt das Nein mit 58,6%.
In der Arbeiterstadt Glasgow, einer alten Labour-Bastion, siegt das Ja mit 53,5%.
Historische Daten
1603 werden England und Schottland unter der gleichen Krone vereint. Jakob VI., König von Schottland, wird zugleich Jakob I. von England.
1707 schafft das „Vereinigungsgesetz“ zwischen Schottland und England die schottischen und englischen Parlamente zugunsten des einen britischen Parlaments ab. Das ist ein entscheidender Moment für die Entstehung des britischen Kapitalismus.