Interview mit Feray Aytekin Aydogan, Vorsitzende der Gewerkschaft der Beschäftigten in Bildung und Wissenschaft (Egitim-SENI in der Türkei
Frage: Im gesamten letzten Jahr wurden zigtausende Beamte entlassen, darunter auch Mitglieder von Egitim-SEN. Deine Gewerkschaft war besonders betroffen. Kannst Du unseren Lesern die wirkliche Lage, besonders auch für eure Gewerkschaft, erläutern?
Feray Aytekin Aydogan: Die Regeln der Verfassung und Gesetze, die von der Regierung Hindernisse betrachtet werden, wurden „suspendiert“. Das wurde begründet mit den Bedingungen des „Ausnahmezustands“ im Lande. Die Gewerkschaften, Berufsverbände, demokratischen Institutionen, Zeitungen, Funk und Fernsehen, die nicht die Regierung unterstützen, waren starkem Druck und Drohungen ausgesetzt.
Wegen der zahlreichen verabschiedeten Gesetzesdekrete wurden hunderttausende Beamte von ihren Posten entfernt, und es wurden neue Bestimmungen für den öffentlichen Dienst eingeführt. Wenn man allein die Gesetzesdekrete betrachtet, mit denen Mitglieder von Egitim-SEN entlassen wurden, betrifft das 1.550 Beschäftigte in Wissenschaft und Bildung. 142 wurden gezwungen, in Rente zu gehen. 1.398 bitten uns weiterhin um finanzielle Unterstützung. 265 sind Akademiker, 1.133 Lehrkräfte, die dem Bildungsministerium unterstehen.
- Was sind die wichtigsten Ziele, Aktionen und Forderungen von Egitim-SEN und eurem Gewerkschaftsbund KESK (1)? Welche Rolle spielt die Gewerkschaftsbewegung im Widerstand gegen Erdogan?
Feray Aytekin Aydogan: Egitim-SEN hat immer für eine demokratische, laizistische Bildung in der Muttersprache, kostenlos und öffentlich, gekämpft. Wir bekämpfen Kinderarbeit und die Privatisierung der Bildung. So wurden z.B. die meisten Schulen in Imam-Hatip-Schulen (staatliche Religionsschulen, d.Red.) verwandelt, die Lehrpläne entfernen sich sehr von einem normalen wissenschaftlichen Unterricht, und Kinder, die anderen Religionsgemeinschaften angehören, werden diskriminiert. Die Existenz unserer Gewerkschaft Egitim-SEN und unseres Gewerkschaftsbundes KESK ist zur Zielscheibe für die Regierung geworden, die für all das verantwortlich ist, denn diese Organisationen werden als ernsthaftes Hindernis für die Regierungsvorhaben betrachtet.
- Habt ihr internationale Initiativen geplant, um an die Solidarität der internationalen Gewerkschaftsbewegung zu appellieren?
Feray Aytekin Aydogan: Das Wichtigste für uns in dem Zusammenhang ist es, Informationen zu geben und mit dem Rest der Welt zu teilen, denn wir müssen unseren Kampf stärken, gemeinsam mit den uns unterstützenden Organisationen. Bis jetzt haben wir immer gesagt, dass die internationale Solidarität und Unterstützung uns stärken. Deshalb ist es in nächster Zeit sehr wichtig, dass die Solidarität finanziell, juristisch und im Handeln real wird.
- Hunderttausende Menschen haben die Demonstration Ende Juni unterstützt, die die Freilassung der tausenden Oppositionellen aus den Gefängnissen forderte, sowie das Ende des Ausnahmezustands und die Aufhebung des April-Referendums, das Erdogans Machtbefugnisse erheblich erweiterte und ihn praktisch zum Alleinherrscher macht. Welche Kräfte haben an diesem Marsch (2) teilgenommen? Welche Wirkung hat der Marsch auf die politische Lage in der Türkei?
Feray Aytekin Aydogan: Man muss darauf hinweisen, dass jede demokratische Aktion für ein Ende der Unterdrückung lebenswichtig ist.
Die Mehrheit der Gesellschaft, die nicht das AKP-System (3) akzeptiert, hat am Marsch für Gerechtigkeit teilgenommen. Egitim-SEN und unser Gewerkschaftsbund KESK haben immer den Grundsatz der Gerechtigkeit für alle unterstützt. Wir denken, dass dieser Marsch für Gerechtigkeit ein wichtiger Schritt ist.
Was das politische Gleichgewicht in der Türkei betrifft, kann man sagen, dass die AKP die unangenehme Erfahrung gemacht hat, dass sie von einer erdrückenden Mehrheit gegenüber einer Minderheitsopposition in eine Situation gerutscht ist, in der sich praktisch eine breite Mehrheit gegen die AKP-Politik richtet.
Das Gleichgewicht der politischen Kräfte ist gekippt, die Opposition ist keine Minderheit mehr. Man kann sagen, dass die AKP in einer schlechten Lage ist, weil jetzt die Mehrheit der Gesellschaft zur Opposition gegen die AKP-Politik umgeschwenkt ist.
- Die IAV organisiert im Dezember eine Weltkonferenz gegen Krieg und Ausbeutung. Was hältst Du von dieser Initiative? Wirst Du daran teilnehmen?
Feray Aytekin Aydogan: Das Gründungsziel von Egitim-SEN ist die Verteidigung des Friedens gegen den Krieg und eine gerechte und gleiche Behandlung statt Ausbeutung. Wir können bis heute sagen, dass wir zur Bewegung für den Frieden, gegen Ausbeutung, gehören und gehört haben, und wir werden diese Ideen vertreten, wenn die Bedingungen uns das erlauben.
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- KESK ist ein Gewerkschaftsbund im öffentlichen Dienst. In der Türkei sind die Gewerkschaftsbünde im öffentlichen und privaten Sektor getrennt.
- Der Marsch von Ankara nach Istanbul wurde von der Partei CHP initiiert, einer nationalistischen Partei mit kemalistischen Wurzeln, für die o.g. Forderungen. Er wurde von den Massen unterstützt. In Istanbul waren es eine Million Demonstranten.
- AKP: die islamistische Partei Erdogans.