Diskussionsbeitrag für die Offene Weltkonferenz in Algier:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in der Erklärung zur Einladung zur Offenen Weltkonferenz wird zu Recht analysiert, dass die „alten Parteien, die sich auf die Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen und der Demokratie berufen haben, heute offen für die allgemeine Rettung des verfaulten Kapitalismus arbeiten“. Das aber hat dazu geführt, dass „sich in vielen Ländern die Arbeiterklasse deshalb immer stärker den Arbeitergewerkschaften (…) zugewandt hat“, um „sie in den Widerstandskämpfen zu nutzen, zu denen sie infolge der zügellosen Offensive des Imperialismus gezwungen ist. Das zentrale Problem für diese Klassenorganisationen besteht darin, dass ihre Unabhängigkeit überall durch jene Offensive massiv bedroht wird.“
Wir möchten in unserem Beitrag auf einen besonderen Aspekt eingehen: die Infragestellung des durch die ILO garantierten allgemeinen Streikrechts, was den Weg für eine generelle Offensive gegen das Streikrecht eröffnet. In dem Kampf für die Verteidigung, bzw. (Wieder-) Eroberung des uneingeschränkten Streikrechts sehen wir einen wichtigen Beitrag für die Verteidigung der Unabhängigkeit der Arbeitnehmerorganisationen.
Auf diese Fragen haben besonders auch Gewerkschaftskollegen aus Afrika hingewiesen.
Die Stärke der unabhängigen Gewerkschaft, ihre Durchsetzungs- und Handlungsfähigkeit als Kampfinstrument der Arbeitnehmer beruht in ihrem uneingeschränkten Streikrecht. Das gilt in jedem Land, wie auch auf der internationalen Ebene. Historisch sind Gewerkschaften aus dem Kampf um Tarifverträge und ihre Durchsetzung durch das Mittel des Streiks entstanden.
Seit 2012 greifen die Arbeitgeber und die Regierungen das im Rahmen der ILO-Konventionen garantierte Streikrecht an. Sie verweigern die Anerkennung der 60 Jahre gültige Ableitung des Streikrechts aus den Konventionen Nr. 87 Vereinigungsfreiheit und Nr. 98 Vereinigungsrecht und Recht zu Kollektivverhandlungen. Damit aber haben sie Arbeitsfähigkeit der IAO insgesamt und ihr Normenkontrollsystems insgesamt in Frage gestellt.
Um die Handlungsfähigkeit der IAO und ihres Normenkontrollsystems zu erhalten, gab es im Frühling 2015 ein Übereinkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Darin wurde zwar die Existenz eines Streikrechts auf nationaler Ebene und ganz allgemein anerkannt, allerdings nicht auf internationaler Ebene und in Form der Ableitung aus den Übereinkommen 87 und 98.
Damit ist die Frage, ob sich aus den IAO Normen ein Streikrecht ableiten lässt, weiterhin umstritten.
Mit dem Übereinkommen aus dem Jahre 2015 konnte zwar erreicht werden, dass der Normenanwendungsausschuss seine Tätigkeit wiederaufnehmen konnte und Verstöße gegen Übereinkommen verhandelt wurden. Aber die eigentliche Streitfrage blieb allerdings ungeklärt. Die Arbeitgeber lassen keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass es aus ihrer Sicht kein internationales Streikrecht in Form von IAO Übereinkommen gäbe, worauf die Gewerkschaften selbstverständlich stets widersprechen.
Im März 2017 wurde das Übereinkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erneuert. Aber angesichts der Bedeutung des Streikrechts für die Existenz der Gewerkschaften, kann festgehalten werden, dass mit dem Angriff auf das Streikrecht das Recht auf unabhängige Gewerkschaften von den Arbeitgebern in Frage gestellt ist.
Das Streikrecht wird auf internationaler Ebene immer heftigeren Angriffen ausgeliefert. In diesem Jahr gab es auf der IAO-Tagung eine ständig steigende Zahl von Kommentaren im Rahmen der IAO-Verfahren zur Prüfung von Beschwerden über Verstöße gegen gewerkschaftliche Rechte. Mehr als 1100 Kommentare wurden von den IAO-Experten an die Regierungen wegen Verstößen gegen die von ihnen ratifizierten IAO-Übereinkommen geschickt. Das betraf besonders die oben genannten Übereinkommen Nr. 87 und 98.
Der Internationale Gewerkschaftsbund hat in seinem jüngsten Bericht („Global Rights Index 2017“) festgestellt, dass in mehr als drei Vierteln der Länder einigen oder allen Beschäftigten das Streikrecht verweigert wird. Insgesamt kann festgehalten werden, dass seit dem Angriff der Arbeitgeber auf das Streikrecht auf internationaler Ebene, diese ihre Fortsetzung auf nationaler Ebene findet. In vielen Ländern gibt es zwar kein generelles Verbot des Streikrechts im jeweiligen Rechtsrahmen aber es gibt einen allgemeinen Trend, nach dem Regierungen zahlreiche Verstöße gegen das Streikrecht unter dem Deckmäntelchen u. a. der »öffentlichen Ordnung«, »öffentlichen Sicherheit«, der »Bedrohung durch den Terrorismus«, »nationalen Interessen « und der »Wirtschaftskrise« rechtfertigen.
Die Formen der Angriffe sind unterschiedlich: So werden per Gesetz Arbeitnehmergruppen vom Streikrecht ausgeschlossen oder es werden Mindestdienstleistungen festgelegt, die im Streik erbracht werden müssen. Gleichzeitig werden zur Ausübung des Streikrechts zu erfüllende überzogene Anforderungen erhöht, bzw. die Rechtsprechung dahingehend geändert, dass die staatlichen Behörden ermächtigt werden, einen Streik auszusetzen oder als rechtswidrig zu erklären. Nicht zuletzt steigen die Sanktionen gegen Streikende.
In diesen Tagen soll z.B. im griechischen Parlament ein Gesetz verabschiedet werden, welches das Streikrecht in Griechenland einschränkt. Es ist unter dem Druck des IWF entstanden und ist eine Folge der Politik der Troika von IWF, EU und anderer internationaler Institutionen, die die Zerstörung von Arbeitnehmerrechte, des Streikrechts und Tarifverträgen diktiert.
So stellte Prof. Tonia Novitz, von der Universität Bristol auf der Konferenz des DGBs „Zur Fundierung des Streiksrechts im ILO-Normensystem“ im Jahre 2016 „wesentliche Trends“ in Europa fest:
„Erstens hin zu stärkerer Beschränkung des Streikrechts im öffentlichen Dienst, zum Beispiel in Kroatien, Griechenland, Portugal, Spanien, mit staatlicher Lohnbestimmung. (…) Drittens harte Maßnahmen gegen Gewerkschaftsproteste (z. B. in Ungarn, mit strikten gesetzlichen Maßnahmen gar gegen die Meinungsfreiheit der Arbeitnehmer, Belgien, Griechenland, Malta, Polen, Spanien).
Man kann festhalten, dass der Angriff der Arbeitgeber bei der IAO auf das Streikrecht seine Fortsetzung in viele nationale Staaten gefunden hat.
Vor diesem Hintergrund bleibt der Beschluss, den in Deutschland der ver.di Bundeskongress vom 2014 gefasst hat, voll gültig: „ver.di weist alle Bestrebungen zurück, die darauf zielen, die Anerkennung eines faktisch international geltenden Streikrechts im Rahmen des IAO- Abkommens Nr. 87 in Frage zu stellen und dadurch das Streikrecht international wie auf nationaler Ebene zu schwächen. Solche Versuche, die auf eine systematische Schwächung der IAO und ihres Normenkontrollsystems zielen, müssen zurückgewiesen werden.“
Deutsche Erfahrungen:
Die Bedeutung wird noch deutlicher, wenn wir von den Erfahrungen der deutschen Gewerkschaften ausgehen.
Die Konstruktion des Streikrechts im deutschen Recht ist ähnlich dem der IAO. So leitet sich das deutsche Streikrecht aus dem Grundgesetz ab. Es heißt im Art. 9.3: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“
Aus dem verfassungsmäßig garantierten Recht Vereinigungen zu bilden, leitet sich das uneingeschränkte Streikrecht ab.
So unterstreichen Kommentare des Bundesverfassungsgerichts, dass allen Arbeitnehmern das Recht auf Gründung freier und unabhängiger Gewerkschaften zusteht, auf gewerkschaftliche Organisierung und das Recht auf Streik ihrer Gewerkschaften.
Erst in den 1950er Jahren wurden in einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gewerkschaftliche Streiks gegen strategische Unternehmens- und Regierungsentscheidungen , die über den Abschluss von Tarifverträgen hinaus die „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ betreffen, verboten. Das ist ein schwerer, ein prinzipieller Eingriff in die Unabhängigkeit der Gewerkschaften, die das Grundgesetz auch mit der absoluten Tarifautonomie garantiert. Weitere Einschränkungen gibt es zusätzlich, wie das Streikverbot für BeamtInnen.
Inzwischen hat das eine große praktische Bedeutung. Die zunehmenden Krisenanforderungen des Finanzkapitals und der industriellen Großkonzerne diktieren in vielen Bereichen eine Unternehmenspolitik, die geprägt ist von vermehrten Ausgründungen (Ausgliederungen, Auslagerungen) und Privatisierungen zur Tarifflucht aus bestehenden Flächentarifverträgen in Niedrigtarife und auch in tariflose und prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse. Das betrifft auch den öffentlichen Sektor. Auch über Regierungsentscheidungen werden hier Tarifverträge faktisch außer Kraft gesetzt und Lohnkostensenkung verordnet. Damit sind die Tarifverträge/Flächentarifverträge in ihrer Existenz, zumindest langfristig, und der Grundsatz „gleicher Lohn – für gleiche Arbeit“ im Kern bedroht. Nach dem o.g. deutschen Richterrecht wird den Gewerkschaften das Streikrecht im Kampf für die Aufhebung von Ausgründung und die Rückführung von ausgegliederten Töchterbetrieben in die Muttergesellschaft abgesprochen. Denn das seien keine „tariffähige“ Forderung.
Es ist eine „außergewöhnliche Situation in Deutschland“, dass zwar Streiks für Tariferhöhungen und Tarifverträge erlaubt sind, Streiks gegen Ausgründung und Privatisierung oder gegen Betriebsstillegung (d.h. Streiks zur Verteidigung der Tarifverträge/Flächentarifverträge) verboten sind. Das Urteil des BAG ist auch unvereinbar mit dem gewerkschaftlichen Verständnis des Übereinkommens 87 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO).
Das Streikverbot gilt z.B. für die Hartz – Reformen, die die Schaffung des größten Niedriglohnsektors nach sich zogen, oder den Rentenreformen, die die Armutsrenten zur Folge hatten usw. In all diesen Fällen war ein Streik nach deutschem Richterrecht verboten.
In den zunehmenden Kämpfen gegen Entlassungen, Ausgründungen, für die (Re) Integration in den Flächentarifvertrag.… prallen die Beschäftigten zunehmend mit den Fesseln, die das Streikverbot ihnen anlegt, zusammen.
In einem historisch beispiellosen Vollstreik haben die Kollegen der Deutschen Post 2015 mit ihrer Gewerkschaft ver.di gegen Ausgliederungen zur Flucht aus den Flächentarifen in Billigtarife erkämpft gekämpft. Auch an der Charité, dem größten Klinikum Europas, oder bei Vivantes, dem größten öffentlichen Krankenhaus Deutschlands haben die KollegInnen in verschiedenen Kämpfen gegen die Tarifflucht und für „mehr Personal in den Krankenhäusern“ das Streikverbot in der Praxis durchbrochen.
Unterzeichner (alle haben den Aufruf zur Offenen Weltkonferenz gegen Krieg und Ausbeutung, am 8.-10. Dezember in Algier, unterstützt).
Gotthard Krupp, Landesbezirksvorstand ver.di Berlin-Brandenburg, Landesvorstand der AfA Berlin; Hannelore Jerichow, Bezirksvorstand ver.di Berlin; Giovanni Ammirabile, ver.di, Betriebsratsvorsitzender Vivantes, SPD; Sven Meyer, Landesbezirksvorstand ver.di Berlin-Brandenburg, AfA-Landesvorstand Berlin; Mario Kunze, ver.di Vertrauensmann, Vivantes; Christian Hass, Landesvorsitzender. der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, Berlin, ver.di; Winfried Lätsch, Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Sprecher der Senioren Berlin-Brandenburg; Manfred Birkhahn, ver.di