Interview mit Mohamed Hachicho, Vorstandsmitglied der libanesischen Gewerkschaft für Straßentransporte, stellv. Generalsekretär der Demokratischen Volkspartei und Delegierter zur Offenen Weltkonferenz (1).
Frage: Der Libanon macht eine schwierige und gefährliche Phase durch. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Hachicho: Die wirtschaftliche und soziale Krise im Libanon ist weder neu noch das Ergebnis besonderer Bedingungen. Sie beruht genauso wenig auf dem Konflikt in der Region und den internationalen Auseinandersetzungen, die die arabische Region seit vielen Jahren erlebt. Sie wird allerdings durch diesen Faktor verschärft, doch letztlich geht sie aus der Natur des Regimes selbst hervor.
Die Herrschaft der libanesischen Bourgeoisie entstand nicht aus einem Bruch mit oder einer Revolution gegen den Feudalismus. Diese Veränderung geschah auf der Grundlage einer „komplizenhaften Fusion“ zwischen den beiden Systemen, bei der die feudalen Großgrundbesitzer sich als neue Bourgeois präsentierten. Sie haben die Kontrolle über die politischen Machtpositionen und Kommandohebel der Wirtschaft behalten und nutzen ihre neuen Positionen im Dienste ihrer alten Interessen.
Die libanesische Wirtschaft ist schwach und beruht auf der Rolle als Vermittler zwischen Ost und West, als Agent im Dienste des internationalen Finanzkapitals und als Verwalter von Kapital, das aus den arabischen Ländern aus Furcht vor den Verstaatlichungen währen der revolutionären Entwicklungen in einigen dieser Länder in den 1950-60er Jahren geflohen ist. Deshalb kam es im Libanon zu einem großen finanziellen und wirtschaftlichen Wohlstand. Ein Wohlstand, der manche Leute getäuscht hat, die glaubten, er hänge mit der Natur der libanesischen Wirtschaft zusammen und nicht mit den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in der Region.
Überdies stützt sich dieses äußerst zerbrechliche Wirtschaftsfundament auf ein politisches System, an dem die verschiedenen Bestandteile der verbürgerlichten Feudalherren beteiligt sind. Das verursacht ununterbrochene Krisen, weil dieses System mit seinen politischen und Finanzinstitutionen völlig dem Weltkapitalismus unterworfen ist, und weil es völlig das neoliberale Wirtschaftssystem übernimmt, das angetrieben wird durch die Ausbreitung von Elend und Arbeitslosigkeit und den Abbau wesentlicher Errungenschaften (Gesundheits- und Bildungswesen…).
Das umso mehr, als der Druck von Saudi-Arabien dem Libanon verbietet, seine Handelsbeziehungen auszuweiten und seine Wirtschaft in die Richtung von Sektoren zu entwickeln, die sich auf Wissenschaft und Technologie stützen.
Frage: Es gibt also auch den regionalen Hintergrund?
Hachicho: Das ist der Grund, weshalb die negativen Auswirkungen des internationalen Konflikts in der Region auf die abhängige libanesische Politik äußerst gefährlich sind und die Nation beinahe in einen neuen Bürgerkrieg gestürzt hätten. Zunächst, weil ein Staat fehlt, der vor allem den nationalen Interessen dient, und zweitens, weil die herrschende Klasse die verschiedenen Gemeinschaften und das religiöse Sektierertum ausnutzt, um die Gegensätze in der libanesischen Gesellschaft zu vertiefen, hauptsächlich in den Reihen der Arbeiterklasse und der Volksschichten, um sie zu einer explosiven Waffe in ihren eigenen Konflikten zu machen. Und drittens, um die Kräfte des libanesischen Widerstands gegen zionistische Besetzung und terroristischen Faschismus zu ersticken und auf zerstörerische interne Konflikte zu lenken, obwohl die internen Konflikte im Libanon hauptsächlich politischer Natur sind. Es gibt einen Konflikt zwischen zwei Flügeln, der eine will den Libanon an die Entscheidungen des Imperialismus, des Zionismus und ihrer arabischen Partner binden, der andere Flügel positioniert sich gegen diese Entscheidungen.
Die aktuelle politische Krise wurde durch das Eingreifen des Regimes von Saudi-Arabien ausgelöst und dessen Absicht, seine Weisungen sowohl innenpolitisch wie außenpolitisch der libanesischen Regierung zu diktieren. Durch diesen Akt wurde der Regierungschef sogar gezwungen, seinen Rücktritt im Ausland einzureichen und den Staat und seine Institutionen anzuklagen, d.h. die politischen Kräfte, die sie heute konstituieren. Durch all das soll der Libanon in die größte politische Krise gestürzt werden, während es keinen Ministerpräsidenten gibt. Mit all dem soll der Libanon vor die Alternative gestellt werden, entweder sich dem Block der arabischen Reaktion anzuschließen, oder den Libanon als einen Staat zu betrachten, der in seinen Institutionen Platz macht für Vertreter einer „terroristischen“ Partei, und so die internationale Gemeinschaft gegen sich zu mobilisieren, und sie zu einem Wirtschaftsembargo und verschiedenen Sanktionen anzustacheln. Der aktuelle Wahnsinn der Saudis verdeutlicht das Ausmaß der Krise eines Unterdrückerregimes, das eine Niederlage nach der anderen erleidet im Irak, in Syrien, im Jemen und Libanon, und das enorme Verluste durch seine Unterstützung für den Terrorismus hinnehmen muss. Es geht darum, den Weg freizumachen für einen Bündnisvertrag mit dem Zionismus, mit dem doppelten Ziel der Bildung eines Militärbündnisses unter US-Befehl gegen den Iran, der als unmittelbare Gefahr angesehen wird. Und v.a. um die Vorbereitung der materiellen und moralischen Grundlage für die Liquidierung der palästinensischen Frage und darum, den Konflikt zwischen Arabern und Zionismus durch einen angeblichen Konflikt zwischen Arabern und dem Iran zu ersetzen.
Frage: Und nun?
Hachicho: Wahrscheinlich schwelt der von Saudi-Arabien im Libanon provozierte Konflikt weiter, obwohl das Vorhaben der Saudis schon beim ersten Schritt demaskiert wurde. Der zionistische Staat fürchtet wohl, in ein neues gefährliches Abenteuer im Libanon zu geraten, und den Wirrwarr der politischen Strategie der neuen US-Regierung.
Bleibt noch der Hinweis, dass der andere Aspekt der Krise die Schwäche und Zersplitterung der linken Kräfte ist, die auch kein Programm und gemeinsame Ansichten haben; außerdem spielen sie keine Rolle in den Gewerkschaften und in der Bevölkerung. Das Schlimmste ist, dass sie sich aus dem aktuellen Konflikt fast ganz raushalten.
Beirut, 18. November 2017
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(1) Das Interview mit Mohamed Hachicho wurde wenige Tage vor der Rückkehr des libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri nach Frankreich geführt, als er noch in Saudi-Arabien festgehalten wurde, und vor seiner Rückzieher von seiner Rücktrittserklärung am 22. November in Beirut.