BRASILIEN Der Putsch – die Errungenschaften werden in Frage gestellt

Luiz Eduardo Greenhalgh, Rechtsanwalt, Gründungsmitglied der Arbeiterpartei (PT), ehem. Abgeordneter im brasilianischen Parlament und Mitglied des Zentralkomitees der PT

Frage: Wie analysierst Du die aktuelle Lage in Brasilien nach dem Putsch von Temer?

E. Greenhalgh: Unter den Regierungen von Lula und Dilma (beide führende Politiker der PT, Ex-Präsidenten Brasiliens, d. Red.) hat das Land einen großen Fortschritt der sozialen und wirtschaftlichen Lage erlebt.

Eines Tages hat man ein gigantisches Ölvorkommen in der Tiefsee entlang der gesamten Atlantikküste Brasiliens entdeckt, das man Presal nennt. Die USA wollten sofort die Menge des entdeckten Öls und seine Förderung untersuchen und der brasilianischen Regierung raten, das Presal-Öl zu privatisieren.

Lula und Dilma haben das mit dem Argument abgelehnt, dass es sich um eine strategische Reserve für die brasilianische Jugend handele. Daraufhin wurden überall Nachrichten verbreitet, dass das Land sehr auf der Kippe stehe, am Rande des Bankrotts.

Die US-Interessen werden in der Presse besonders von dem sehr mächtigen Netzwerk der Zeitung Globo vertreten, die die Mehrheit der Presse besitzt.

Dilma ist also in den Wahlkampf für ihre Wiederwahl mit der Aussage gegangen, dass das Land verschuldet und am Rande der Krise sei. Trotzdem hat Dilma die Wahl gewonnen mit 51% gegen 49% für die Opposition. Die Opposition hat das Ergebnis nicht hingenommen und die Wahl angefochten; sie forderte, dass die Wahl für ungültig erklärt und eine neue organisiert werde. Die gesamte Situation eskalierte bis zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens [„Impeachment“ gegen Dilma]. Nach Temers Putsch haben sie begonnen, alles zurückzuschrauben und zu vernichten, was bis dahin an Errungenschaften in den Amtszeiten von Lula und Dilma erobert worden war.

Sie sind also dabei, das Presal zu privatisieren. Sie haben eine Arbeitsrechtsreform beschlossen, durch die die Löhne gekürzt werden und festgelegt wird, dass der Einzelvertrag zwischen dem Unternehmer und seinem Beschäftigten Vorrang vor dem gesetzlich festgelegten hat: Das ist die völlige Individualisierung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit.

Jetzt planen sie eine Rentenreform.

Frage: Und was passiert nun mit Lula?

E. Greenhalgh: Diese gesamte wirtschaftliche Reorganisierung Brasiliens – die Putschisten sagen, das Land sei bankrott – geschieht auf Kosten der Arbeitnehmerrechte und der Rentnerrechte und durch den Ausverkauf des gesamten öffentlichen Vermögens. Sie sind im Begriff, wirklich alles zu privatisieren: die Schulen, die Stahlindustrie, die Ölindustrie…

Das Volk begann dann zu durchschauen, dass das Impeachment gegen Dilma eine Falle war, um seine Errungenschaften zu kassieren.

Die Arbeiter sagten sich: „Nun denn, wir werden die Dinge in der Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 ändern.“

Das Volk fordert nun Lulas Rückkehr. Daraufhin begann eine neue Phase für den Putsch. Sie greifen zu einer Strategie, um Lulas Teilnahme an der kommenden Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 zu verhindern.

Nachdem sie sich erst auf die Parlamentsabgeordneten gestützt hatten, begannen sie den Justizapparat einzusetzen.

Es wurden Anklagen gegen Lula erhoben, um ihn in mehrere Prozesse zu verwickeln, die darauf hindeuten, dass er an vielen Unregelmäßigkeiten in seiner Amtszeit schuldig sei, die die Korruption im Staatsapparat verstärkt hätten. Damit begann eine ganze Prozess-Serie.

Es gibt ein Gesetz in Brasilien, dass man als Kandidat für die Wahl zu irgendeinem öffentlichen Posten nicht in 2. Instanz verurteilt sein darf.

Lula wurde in diesen Prozessen wegen „nebulöser Unregelmäßigkeiten“ [ohne Beweise] vom Richter Sergio Moro zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt. Lula, noch in Freiheit (1), hat natürlich sein Recht auf einen Revisionsantrag in 2. Instanz genutzt. Die 2. Instanz ist ein kollektives Gericht. Falls Lula in 2. Instanz verurteilt wird, kann er nicht kandidieren. Doch die Richter des Berufungsgerichts sind dabei, das Verfahren zu beschleunigen. Denn um Lulas Kandidatur zu verhindern, muss er mindestens 6 Monate vor dem offiziellen Wahltermin verurteilt worden sein.

Wenn Lula nicht innerhalb dieser Frist verurteilt wird, ist er zur Kandidatur berechtigt. Und weil die Wahlen im Oktober stattfinden, wollen die Richter ihn vor Ende April verurteilen.

Frage: Wie reagieren die Arbeiter?

E. Greenhalgh: Es hat ein sehr mächtiger eintägiger Generalstreik zur Warnung stattgefunden. In Brasilien gibt es neben den Gewerkschaften viele andere soziale Bewegungen. Bei uns gibt es die Bewegung der landlosen Bauern (MST), die gerade einen sehr wichtigen Kampf aufnimmt, denn Temer will den Landkauf durch Ausländer liberalisieren. Es gibt die Bewegung der obdachlosen Arbeiter (MTST), die Bewegung gegen Staudämme (MOAB) und den Nationalen Studentenverband (UNE). Sie alle haben am Generalstreik teilgenommen, wie auch der CUT und alle anderen Gewerkschaftsbünde.

Das Dilemma für den 18. ist: Si votai, vai parar! („Wenn es beschlossen wird, wird das Land in den Streik treten“). Wenn Temer die Abstimmung über die Rentenreform (providencia) ansetzt, bricht in Brasilien ein Streik aus.

Frage: Was erwartest Du von den Ergebnissen dieser 9. OWK? Wie siehst Du die Dinge?

E. Greenhalgh: Die Offensive gegen die Gewerkschaften und Arbeiter, die Deregulierung des Arbeits- und Rentenrechts, ist nicht auf Brasilien beschränkt. Es handelt sich um eine weltweite Erscheinung, wie das in allen Beiträgen der Konferenzteilnehmer deutlich wurde. Die Berichte sind ähnlich, die Probleme sind ähnlich. Und ich meine deshalb, dass die Ideen und Lösungen, die wir finden werden, ähnlich sein müssen.

Die Arbeiter brauchen eine weltweite Vertretung, es ist dringend, dass sie sich ein Mittel für den Meinungsaustausch aufbauen, um Strategien im Kampf gegen den Imperialismus und das Finanzkapital zu entwickeln. Diese OWK liefert uns den Beweis, dass die Ereignisse in Brasilien keine nationale Besonderheit sind. In den anderen Ländern gibt es ebenfalls solche Entwicklungen, und wir müssen gemeinsame Initiativen ergreifen.

Außerdem hat mich die Situation des Kampfes in Palästina und auch in Afrika sehr beeindruckt.

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(1) Nach seiner Verurteilung im Juli 2017 blieb Lula in Freiheit, mit dem Recht auf Revision (d.Red.)