Brasilien: Kann Lula Präsidentschaftskandidat sein?

von Julio Turra, CUT- und PT-Mitglied, auf dem Grtündungstreffen der IVK

Heute, am 8. Juni, findet in der Stadt Contagem, einer Arbeiterbastion, eine Versammlung für den Start von Lulas Kandidatur zum Präsidenten der Republik statt. Alle PT-Gremien haben beschlossen, dass als PT-Kandidat der Genosse Luiz Ignacio Lula da Silva antritt. Die Präsidentschaftswahl findet in vier Monaten statt. Jedermann kann sich fragen, wie das möglich ist: Lula sitzt im Gefängnis. Er kann als Kandidat antreten. Vom Standpunkt der Gerichtsurteile gegen Lula könnte die Antwort Nein sein, es sei ein bloßer Propagandacoup der PT.

Aus unserer Sicht ist es ernst gemeint, kein bloßer Propagandacoup. Erstens hat Lula seine politischen Rechte nicht verloren. Er sitzt im Gefängnis auf Grund des Urteils eines Richters der zweiten Instanz. Er kann noch bei höheren Gerichten und dem Obersten Gerichtshof Revision beantragen. Deshalb behält Lula, solange diese Verfahren nicht abgeschlossen sind, alle politischen Rechte.

Das Festhalten an Lulas Kandidatur ist der Schlüssel zur Lage in Brasilien.

Heute sammeln sich die Arbeiterklasse und die Volksmassen um Lulas Kandidatur, um gegen die Folgen des Staatsstreichs zu kämpfen. Es gibt jedoch einen Widerspruch. Worin besteht er? Ich habe auf der Offenen Weltkonferenz in Algier dargestellt, dass die Ursache für den Staatsstreich auch politische Fehler der regierenden PT waren. Es ist der Vizepräsident der Republik (Temer), der auf der gleichen Wahlliste wie Dilma stand, der die Macht an sich gerissen hat.

Die PT hatte ein Abkommen mit Teilen der Bourgeoisie geschlossen, die dann Dilma aus der Regierung warfen, um direkt die Macht zu übernehmen, um dann im Dienste des US-Imperialismus damit zu beginnen, die sozialen, politischen Errungenschaften und die der nationalen Souveränität, die in harten Kämpfen in den beiden Amtszeiten von Lula und Dilma erobert worden waren, zu zerschlagen.

In bestimmter Weise bildeten Lula und Dilma ein breites politisches Bündnis mit Teilen der Bourgeoisie. Lula war in der Geschichte meines Landes derjenige, der 44 Millionen Brasilianer aus dem absoluten Elend geholt hat, der Maßnahmen der nationalen Souveränität besonders für die Ölindustrie beschlossen hat. Doch es wurde hinterher auch eine breite Koalition mit den Parteien gebildet, die die Interessen des Kapitals vertreten. Sie hat keine einzige Strukturreform durchgeführt. Das Ergebnis bestätigt die Volksweisheit: „Wenn Du mit dem Feind schläfst, drohen Dir Alpträume, und beim Erwachen befindest Du dich in einer lausigen Situation!“

Die Partei hat sich in die politischen Herrschaftsinstitutionen integriert

Die PT ist keine traditionelle Partei wie die der Sozialdemokratien in Europa oder die Kommunistischen Parteien, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer aufgelöst haben.

Die PT ist als unabhängige Arbeiterpartei entstanden. (…) Sie ist nicht die ursprüngliche Partei geblieben, eine Partei von Arbeiterkämpfern, des Klassenkampfes. Sie hat sich an die in Brasilien existierenden politischen Herrschaftsinstitutionen angepasst. Um eine parlamentarische Mehrheit zu erlangen, schloss die PT Abkommen mit aller Welt. Scheinbar bestimmte also die PT die Politik, aber eben nur scheinbar.

Weil sie die Privilegien der einheimischen Bourgeoisie nicht antastete, weil sie nicht mit der Politik des Imperialismus brach, verwandelte sie sich und ließ sich von ihren eigenen Verbündeten kidnappen.

Man muss an die von den Rechten aufgebaute Massenbewegung erinnern, die wir mit eigenen Demonstrationen, besonders den von der CUT organisierten, durchkreuzt haben. Das ganze Jahr 2015 fand nach diesem Schema statt: die Rechten brachten 100.000 Menschen auf die Straße, in der Folgewoche antworteten wir mit 100.000 usw.

Doch es gab ein Problem, weil Dilmas Wirtschaftspolitik die der „Steuer-anpassung“ war, die die ärmsten Arbeiterschichten traf: die Hilfen bei Krankheit wurden gekürzt, es gab die Antireform des sozialen Sicherungssystems. Das alles missfiel aber der PT-Basis. Denn Dilma hatte die Wahl gegen die Rechten mit dem Versprechen gewonnen: „Keine unserer Errungenschaften wird angetastet“! Und jetzt bestand die erste Maßnahme ihrer zweiten Amtszeit daraus, die Arbeitnehmerrechte infrage zu stellen. Das hat Arbeiterkämpfer verwirrt.

Zu keiner Zeit hat Dilma die CUT empfangen, um mit ihr über irgendetwas zu verhandeln. Und selbst in dieser Situation haben wir unsere Basis mobilisiert, um einen ersten sich abzeichnenden Staatsstreich der Rechten zu verhindern. Man verspürte eine gewisse Ohnmacht zum Zeitpunkt der Abstimmung über das impeachment (Amtsenthebungsverfahren) gegen Dilma. In Brasilia fanden zwei Großdemonstrationen statt: eine von der CUT und eine der Rechten. Als die Abgeordneten abstimmten, schrumpften die 208 Stimmen, auf die die PT rechnete, zu 157. Und alle sogenannten verbündeten Parteien der PT stimmten für das impeachment!

Heute ist also das Votum für Lula die einzige Möglichkeit, die Situation zugunsten der Arbeitnehmer zu wenden. Das geschieht nicht spontan. Es gibt in der PT eine Gruppierung, die sich »PT-Dialog und Aktion« nennt. Das ist eine breite Gruppierung mit vielen Kollegen und Genossen auf der Grundlage einer einzigen Frage: Man muss zurück zu den Ursprüngen der PT, zu jener Partei, die auf ihrem ersten Kongress sagte: „Wir sind eine Partei ohne Kapitalisten, eine Arbeiterpartei, die den Kapitalismus bekämpft, um den Weg zum Sozialismus zu bahnen.“ Sechs Monate, nachdem das impeachment gegen Dilma, also ein Staatsstreich, beschlossen worden war, verlor die PT in den Kommunalwahlen 10 Millionen Stimmen! Also freute sich die offizielle Presse natürlich über das programmierte Verschwinden der PT. Mithilfe der Gruppierung »PT-Dialog und Aktion«, Mitglied der IAV, wurde eine Kampagne für den Wiederaufbau der PT gestartet. Diese Kampagne hatte beträchtliche Wirkung. Die Arbeiter und Bauern sagten: „Ja, wir brauchen unsere eigene Partei, und sie muss wiederaufgebaut werden.“ Auf dem letzten Parteitag wurden sämtliche Vorschläge von »PT-Dialog und Aktion« angenommen: Man muss mit der Bündnispolitik mit der Bourgeoisie brechen, denn das Ergebnis hat man mit dem Staatsstreich gesehen; man muss eine Plattform anti-imperialistischer Reformen für das Volk präsentieren, um für die Regierungsmacht zu kämpfen; Lula muss als Präsidentschaftskandidat aufgestellt werden.

Zurück zu den Ursprüngen der PT

Heute zeigen die Umfragen, dass 20% der Arbeitnehmer die PT für ihre beste Vertretung halten. In den Voraussagen ist Lula trotz seiner Gefängnishaft mit 40% der Wählerstimmen der Favorit. Der an zweiter Stelle hat nur 15%. Eben deshalb sitzt Lula im Gefängnis, weil jeder weiß, dass er der Wahlsieger sein wird mit einer Plattform, die der internen Bilanz der PT über den Weg, der den Staatsstreich ermöglicht hat, entspricht.

Das ist dieser widersprüchliche Aspekt der Situation: Es gibt einen Zerfallsprozess, die traditionellen Parteien brechen zusammen, und man muss eine wirkliche politische Vertretung der Arbeitnehmer und Volksmassen aufbauen, die sich nicht den Interessen der Kapitalistenklasse anpasst. Das sind widersprüchliche Elemente.

Wenn man eher schematisch denkt, würde man sagen: Lula ist für den Bankrott der PT verantwortlich, er ist für die Regierung Dilma verantwortlich, für das schlimme Bündnis mit Teilen der Bourgeoisie, daher ist es normal, wenn die PT untergeht.

Doch Tatsache ist, dass die brasilianischen Massen, die die PT in den Streiks, Mobilisierungen, Landbesetzungen aufgebaut haben, in der Person Lula die Lösung sehen. Und wir selbst versuchen mit unserer Gruppierung, die der IAV verbundenen ist, dieser Entwicklung einen politischen Inhalt zu geben. Ich denke also, dass sich die Frage der politischen Klassenvertretung im Kampf dafür stellt, dass die PT wieder zur PT, zur ursprünglichen PT wird, die auf ihrem Gründungskongress die Losung beschlossen hat: „Eine Partei ohne Kapitalisten!“