Seit 70 Jahren die Nakba in Permanenz

Interview mit dem israelischen Historiker Ilan Pappé

Ilan Pappé ist ein international bekannter israelischer Historiker. Er wurde 1954 in Haifa als Sohn deutscher Juden geboren, die in den 30er Jahren vor dem Faschismus aus Deutschland geflohen waren. Seine Analysen der Ereignisse von 1947-1948 zu Beginn der Nakba, ausgelöst durch die Schaffung des Staates Israel, sind ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der politischen Situation. Wir veröffentlichen im Folgenden ein Interview der Zeitung der unabhängigen Arbeiterpartei in Frankreich (POI), »Informations ouvrières«, mit Ilan Pappé (Juli 2018).

Frage: Am 1. Juni wurden große Kundgebungen in Haifa und Gaza unter der Losung „Wir sind ein Volk mit der gleichen Herkunft“ organisiert, Seit Ende März 2018 überlegen die Palästinenser im Gazastreifen, die im Leitungskomitee des Großen Marsches für die Rückkehr organisiert sind, dass jetzt die Form ihres Kampfes geändert werden muss. Ihre Hauptforderung lautet „Wir wollen nach Hause zurück“, und dieser Ruf erschallt auf allen Gebieten des historischen Palästina, wo immer Palästinenser leben: aus Haifa, Gaza oder Jenin, aus allen Flüchtlingscamps Darin zeigt sich ein und das gleiche Volk. Kannst Du für unsere Leser aus historischer Sicht darstellen, welchen Inhalt die tatsächlichen Ereignisse haben, die Bedeutung dieses Großen Marsches, den Grund für seine Stärke, 70 Jahre nach Gründung des israelischen Staates durch die UNO?

Ilan Pappé: Ein guter Ausgangspunkt für das Verständnis besteht darin, die Bedeutung des Hegemonie-Diskurses gegenüber Palästina zu verstehen, der die Grundlage für den „Friedensprozess“ bildet. Diese Herangehensweise geht davon aus, dass der Konflikt 1967 begonnen hat und die Lösung in einer Einigung über die Zukunft von Westjordanland und des Gazastreifens besteht. Diese Herangehensweise ist gescheitert, weil der Konflikt nicht 1967 begonnen hat, sondern 1948 oder sogar früher, als die zionistischen Siedler zum ersten Mal 1882 eingewandert sind. Sie gierten danach, so viel Land wie möglich von Palästina zu bekommen, mit so wenigen Palästinensern wie möglich darauf. Sie sind diesem Ziel bedeutend näher gekommen, als sie 1948 Palästina von der Hälfte seiner Bevölkerung ethnisch gesäubert haben (hunderttausende von ihnen sind in den Gazastreifen geflohen).

Der Kampf der Palästinenser hat sich seitdem zunächst auf die Rückkehr dieser Flüchtlinge konzentriert und auf die Verwirklichung des Rechts auf Rückkehr der Palästinenser in das gesamte historische Palästina. Diese Position änderte sich Anfang der 80er Jahre, und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zeigte sich bereit, sich mit einem Staat allein in Westjordanland und im Gazastreifen zufrieden zu geben. Das änderte aber nichts an der grundlegenden zionistischen Vision, eines Palästina unter israelischer Kontrolle, egal mit welchen Mitteln es erreicht wird. Das Scheitern dieser Herangehensweise, das sich im Zusammenbruch der Osloer Verträge zeigte, spornte viele Palästinenser an, besonders die Jugendlichen, den Kampf für die Befreiung von Gesamt-Palästina wieder aufzunehmen, mit der zentralen Losung der bedingungslosen Rückkehr der Flüchtlinge. Diese voller Energie aufgenommene Erneuerung, die von den antizionistischen Juden in Israel unterstützt wird, wird heute als die Lösung eines einzigen Staates definiert. Sie unterscheidet sich vom ursprünglichen PLO-Programm für die Rückkehr der jüdischen Einwanderer in ihre Herkunftsländer. Dieses neue Programm akzeptiert die Existenz der jüdischen Siedlungen in ganz Palästina, jedoch in einem demokratischen Staat mit Gleichberechtigung für alle, einschließlich der Heimkehr der Flüchtlinge.

Das entwickelt sich parallel zum besonderen Kampf der Bevölkerung von Gaza. Sie kämpfen vor allem für das Ende der Belagerung durch Israel in den letzten zehn Jahren und länger. Aber die Vorkämpfer dafür gehören auch zu der neuen Generation, die das Problem von Palästina insgesamt lösen will. Deshalb fordern sie sowohl das Ende der Blockade und die Erlaubnis zur Rückkehr auf ihre eigenen Ländereien auf der anderen Seite der Grenze, die den Gazastreifen abschneidet, und auf denen die jüngsten israelischen Siedlungen gebaut werden. Die Demonstrationen in Haifa waren sowohl Ausdruck der Solidarität mit dem Kampf gegen die Belagerung, als auch der Unterstützung der neuen Vision für ein befreites Palästina.

Frage: Die tatsächlichen Ereignisse im Gazastreifen beweisen, dass die Nakba nicht zuende ist. Kannst Du uns kurz erläutern, was die Nakba ist und wie man davon sprechen kann, dass die Nakba ein immer noch aktueller langer Prozess ist?

Ilan Pappé: Nakba bedeutet auf arabisch „Katastrophe“ und meint die ethnische Säuberung von 1948, in der die israelischen Truppen innerhalb von 9 Monaten die Hälfte der palästinensischen Dörfer und die meisten Städte zerstört und die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung vertrieben haben. Auf den Ruinen der Dörfer hat Israel seine Siedlungen erbaut oder Wälder gepflanzt. Dieses Vorgehen setzte die ideologische Vision des Zionismus von einem Palästina, so jüdisch wie möglich, in die Praxis um. Und weil „nur“ die Hälfte des palästinensischen Volkes vertrieben wurde und „nur“ 78% des Landes besetzt wurden, ist der Staat Israel seitdem mit den demographischen Realitäten von Palästina nach 1948 beschäftigt. Und seine gesamte Politik (d.h. die Sicherung der militärischen Unterdrückung der palästinensischen Minderheit, die bis 1966 in Israel geblieben war, sowie danach der Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen bis heute; die Praktizierung einer Politik der Zerstörung von Häusern, Vertreibung von Personen und der Massaker an Palästinensern) ist darauf ausgerichtet, die zionistischen Ziele zu verwirklichen. Deshalb sprechen die Palästinenser von der „Nakba al-moustamera“, d.h. der fortgesetzten Nakba.

Man findet ein und die gleiche Ideologie hinter den Angriffen auf Gaza, dem Apartheid-System in Israel und den Schikanen gegen die Bevölkerung von Westjordanland.

Frage: Was halten die Israelis von der Nakba?

Ilan Pappé: Viele Israelis wissen nicht, was während der Nakba geschehen ist, und die wenigen, die es doch wissen, scheinen sich nicht darum zu kümmern. Allerdings gibt es eine wachsende Minderheit, die sich der früheren und heutigen Politik schämt und mit unterschiedlich großer Überzeugung gemeinsam mit den Palästinensern Widerstand zu leisten und vor Ort eine neue Realität zu schaffen versucht.

Frage: Was hältst Du vom Kurs der „israelischen Gesellschaft“, bei der wir von außen betrachtet spüren, dass sie hauptsächlich von der Armee und sehr oft durch die Religion zusammengehalten wird?

Ilan Pappé: Die israelische Gesellschaft ist vor allem eine von Siedlern, die im ständigen Kampf gegen das einheimische Volk von Palästina stehen. Deshalb hat sich der Versuch, diesen Kampf mit universellen Ideologien wie dem Liberalismus oder dem Sozialismus zu rechtfertigen, als Fälschung entlarvt. Die meisten Israelis sind eher geneigt, jene zu unterstützen, die offen vom Endziel der Siedler (der Rechten in Israel) sprechen. Die Religion spielt eine wichtigere Rolle als früher bei der Rechtfertigung dieses Endziels, das aber ein weltliches Vorhaben ist und kein religiöses.

Frage: Welche Zukunft hat eine solch gewalttätige Gesellschaft auf der Grundlage einer derartigen Verleugnung?

Ilan Pappé: Sie können kurzfristig erfolgreich sein, aber wenn sie sich langfristig nicht ändern, werden das Ausland und die Region eine solche Lage nicht mehr lange dulden. Die schrecklichen Ereignisse in der arabischen Welt und die Uneinigkeit unter den Palästinensern verschaffen ihnen mehr Zeit, aber nicht für ewig.

Frage: Welche Perspektiven gibt es nun? Kannst Du uns dein Engagement für die Gruppierung namens »Kampagne für einen einzigen demokratischen Staat« erläutern, ihre Bedeutung und Ziele?

Ilan Pappé: Die »Kampagne für einen einzigen demokratischen Staat« ist, wie ich schon sagte, der einzige Weg für Fortschritte. Sie wird bei jungen Palästinensern sehr populär. Sie wird jedoch nicht von den wichtigsten Vertretungen des palästinensischen Volkes unterstützt, und es ist sehr schwer, diese Idee ohne eine solche Unterstützung zu verbreiten. Ich glaube jedoch, dass es so weit kommen wird, einerseits wegen Israels Politik, und andererseits wegen der Forderungen der palästinensischen Zivilgesellschaft. Dann wird sie eine Chance auf Unterstützung von fortschrittlichen Israelis und der internationalen Gemeinschaft haben, d.h. gleichzeitig von der Zivilgesellschaft und dann hoffentlich auch den Regierungen.